Biomechanische Grenzwerte bei MRK Applikationen

Andreas Schunkert • 29. April 2025

Biomechanische Grenzwerte in der Mensch-Roboter-Kollaboration

Einleitung

Die Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK) hat in den letzten Jahren einen signifikanten Aufschwung erfahren, insbesondere in der industriellen Fertigung und Logistik. Die Interaktion zwischen Mensch und Roboter birgt jedoch potenzielle Risiken, besonders in Bezug auf die Sicherheit des menschlichen Arbeitnehmers. Um diese Risiken zu minimieren, wurden verschiedene Normen entwickelt, wobei die ISO/TS 15066 eine der zentralen Dokumente für die Festlegung biomechanischer Grenzwerte darstellt. Diese Technische Spezifikation definiert spezifische Werte für Kräfte und Drücke deren Überschreitung zu Schmerzen führen können (Schmerzeintritt). Der vorliegende Artikel beleuchtet den aktuellen Stand dieser Technischen Spezifikation, kritisiert ihre starre Handhabung der Grenzwerte und untersucht alternative Ansätze, wie die Integration von Schmerztoleranz. Abschließend wird ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Normen gegeben.


Aktueller Stand: ISO/TS 15066

Die ISO/TS 15066 wurde 2016 veröffentlicht und stellt einen wichtigen Meilenstein in der Standardisierung der menschlich-robotischen Interaktion dar. Das Dokument beschäftigt sich mit der Sicherheit von kollaborierenden Robotern und kritischen Punkten in der Mensch-Roboter-Interaktion. Es definiert dabei in der seiner Anlage A verschiedene Grenzwerte, um das Risiko von Verletzungen zu minimieren. Zu den relevanten Parametern gehören unter anderem:

  1. Kräfte und Drücke: Die Spezifikation legt spezifische Werte für die Kräfte fest, die von Robotern auf Menschen maximal ausgeübt werden sollten. Diese Werte differenzieren sich in Abhängigkeit von den betroffenen Körperteilen und der Art der Interaktion, um Verletzungen zu vermeiden. Es wird beispielsweise zwischen den Kräften unterschieden, die auf die Arme, Beine oder den Rumpf wirken. Generell sind höhere Kraftwerte für kurze, dynamische Interaktionen zulässig, während niedrigere Werte für längere, statische Kontakte gelten sollten.
  2. Interaktionszeit: Die ISO/TS 15066 betrachtet sowohl statische als auch dynamische Interaktionen. Die Zeitspanne, in der Kräfte auf den Körper wirken, ist dabei entscheidend. Längere Interaktionen mit hohen Kräften können das Risiko für Verletzungen erhöhen. Daher empfiehlt die ISO/TS 15066 unterschiedliche Werte, die auf die spezifischen Interaktionsbedingungen und -dauern abgestimmt sind. Der Treshold zwischen kurzen/dynamischen und langen/quasi statischen Kontakten ist dabei auf 0,5 Sekunden festgelegt.
  3. Szenariospezifische Risikoanalyse: Die Technische Spezifikation verlangt von Integratoren, dass sie spezifische Risikoanalysen für die Arbeitsumgebung durchführen, um die Sicherheit der Interaktion zu gewährleisten.


Kritische Betrachtung der Starren Werte

Trotz der positiven Aspekte der ISO/TS 15066 ist die starre Handhabung der festgelegten Werte und die mangelnde Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit einer Kollision ein zentraler Kritikpunkt. Statische Grenzwerte lassen sich nicht immer auf die vielfältigen, dynamischen Interaktionen zwischen Mensch und Roboter anwenden.


Ein Beispiel für diese Problematik ist die Anwendung der Werte in unterschiedlich gestalteten Arbeitsumgebungen. Die biomechanischen Eigenschaften eines Menschen variieren erheblich je nach körperlicher Konstitution, Alter und Fitnesslevel. Ein fester Wert kann in einer bestimmten Situation zu sicherer Interaktion führen, während er in einer anderen zu Verletzungen führen kann.


Zusätzlich können die Umgebungsbedingungen, wie etwa die Geschwindigkeit des Roboters, die Art der Arbeit und die Aufmerksamkeit des menschlichen Mitarbeiters, die Wahrscheinlichkeit von Kollisionen und die Auswirkungen auf die Sicherheit entscheidend beeinflussen. Daher könnte eine stärkere Berücksichtigung dieser Variablen in der Normierung notwendig sein, um ein realistisches Sicherheitsniveau zu gewährleisten.


Innovative Ansätze: Schmerztoleranz statt Schmerzeintritt

In den bestehenden Studien zum Schmerzeintritt, die in die Anlage A der ISO/TS 15066 eingeflossen sind, konzentriert man sich auf die Schwellenwerte, ab denen Schmerzen auftreten können. Diese starren Werte bieten jedoch nur einen eingeschränkten Blick auf die Auswirkungen von Kollisionen zwischen Mensch und Roboter. Neuere Studien, die sich mit der Schmerztoleranz befassen, weisen darauf hin, dass es sinnvoll ist, sich nicht nur auf den Schmerzeintritt, sondern auch auf die individuelle Schmerztoleranz zu konzentrieren.


Besonders bemerkenswert ist das Potenzial welches man erhält, wenn man sowohl die Schmerzeintrittswerte, als auch die Schmerztoleranzwerte verwendet. Ist die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Kollision hoch, könnten an dieser Stelle die Schmerzeintrittswerte als Maßstab herangezogen werden. Ist die  Wahrscheinlichkeit einer Kollision jedoch geringer, könnten für Kollisionen die höheren Schmerztoleranzwerte als Maximum verwendet werden. Dies würde die Möglichkeit bieten, die Interaktion zwischen Mensch und Roboter sicherer zu gestalten, während gleichzeitig der Betriebsablauf nicht unnötig eingeschränkt wird.


Diese neuen Ansätze zur Integration der Schmerztoleranz bieten nicht nur eine Perspektive zur Aufweichung der starren Werte der ISO/TS 15066, sondern fördern auch die Entwicklung von dynamischen Sicherheitskonzepten, die der Realität von Mensch-Roboter-Interaktionen gerecht werden.


Zukunftsausblick: Entwicklung in eine B-Norm

Die Konversion der ISO/TS 15066 in eine bindende Norm (B-Norm) ist ein entscheidender Schritt in der Standardisierung der MRK und wird in naher Zukunft erfolgen. Diese neue Norm wird voraussichtlich nicht nur die bestehenden Werte für Schmerzeintritt und Verletzungen anpassen, sondern auch innovative Parameter wie Schmerztoleranz integrieren.


Ein entscheidendes Element könnte die Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Arbeitsumgebungen und Anwendungen sein. Beispielsweise könnte in industriellen Umgebungen eine andere Grenzwertannahme gelten als in Pflegeeinrichtungen oder Logistikzentren, wo die Arbeitsbedingungen variieren und die Interaktionen sensibilisierter erfolgen müssen.


Darüber hinaus könnte die Norm schrittweise anpassbare Grenzwerte integrieren, die sich dynamisch ändern, basierend auf dem Feedback des Arbeitnehmers oder dem Einsatzort des Roboters. Dadurch könnte das Risiko einer Verletzung signifikant gesenkt werden, da jede Interaktion spezifisch auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen könnte.


Integration der Psychosozialen Aspekte

Ein weiterer, oft vernachlässigter Aspekt in der Gestaltung von Normen ist die Berücksichtigung psychosozialer Faktoren. Alter, Stress und das allgemeine Wohlbefinden der Mitarbeiter spielen eine entscheidende Rolle in der Interaktion mit Robotern. Die zukünftige Norm könnte auch Vorschläge zur Gestaltung von Arbeitsumgebungen enthalten, die nicht nur die physische Sicherheit, sondern auch das psychische Wohlbefinden der Mitarbeiter in den Fokus stellt. Ein ganzheitlicher Ansatz, der sowohl die physischen als auch die psychologischen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt, wird zunehmend als notwendig erachtet, um die Akzeptanz und den Erfolg von MRK-Systemen zu fördern.


Forschung und Entwicklung

Um die genannten Ziele zu erreichen, ist kontinuierliche Forschung notwendig. Ein interdisziplinärer Ansatz, der Ingenieure, Kognitionswissenschaftler, Psychologen und Ergonomieforscher einbezieht, wird notwendig sein, um ein umfassendes Verständnis der komplexen Interaktionen zwischen Mensch und Roboter zu erlangen. Studien sollten nicht nur biomechanische Messungen beinhalten, sondern auch subjektive Bewertungen der Nutzer zur Schmerztoleranz, zur Risikowahrnehmung sowie zu Stress und emotionalen Reaktionen untersuchen.


Erfreulicherweise gibt es bereits vielversprechende Forschungsprojekte in diesem Bereich. Innovative Projekte nutzen Machine Learning und KI, um menschliche Reaktionen während der Robotersinteraktionen in Echtzeit zu interpretieren. Solche Studien könnten dazu beitragen, adaptive Systeme zu entwickeln, welche die Interaktionen auf individuellere Weise optimieren und somit das Risiko potentieller Verletzungen weiter minimieren.


Fazit

Die biomechanischen Grenzwerte, wie sie in der ISO/TS 15066 definiert sind, stellen einen bedeutenden Schritt in der Sicherstellung der Mensch-Roboter-Interaktion dar, müssen jedoch aufgrund ihrer starren und oft zu allgemeinen Natur kritisch hinterfragt werden. Ein flexiblerer Ansatz, der sowohl Schmerztoleranz als auch eine dynamische Risikoanalyse integriert, könnte helfen, das Sicherheitsniveau zu verbessern und gleichzeitig die Möglichkeiten für produktive und kollaborative Arbeitsweisen zu erweitern.



Der Übergang zur B-Norm wird eine entscheidende Gelegenheit bieten, um aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung zu integrieren und eine umfassendere und pragmatischere Sicherheitsrichtlinie für die MRK zu entwickeln. Nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und kontinuierliche Innovation wird es möglich sein, die Herausforderungen der Sicherheit und Effizienz in der Mensch-Roboter-Kollaboration erfolgreich zu meistern.



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